Buchgedanken | Zorn und Morgenröte - Renée Ahdieh

Juni 20, 2020


Jeden Morgen, wenn sich die Sonne über den Horizont hebt, muss eine junge Frau sterben - so hat es der Kalif befohlen. Jeden Abend heiratet er ein neues Mädchen, das im Morgengrauen zu ihrer Hinrichtung geführt wird. Eines Tages meldet sich die Tochter des Wesirs freiwillig, um dem Kalifen die Stirn zu bieten. Die Geschichte von Scheherazade, die dem Kalifen jede Nacht eine Geschichte erzählt und so am Leben bleibt, ist weltweit bekannt. Renée Ahdieh hat sich die tausend Jahre alte Geschichte als Inspiration für ihren Jugendroman Zorn und Morgenröte genommen. Ebenso wie ihre Märchen-Vorlage erzählt Shahrzad dem Kalifen Geschichten und überlebt. Während ihrer Zeit im Palast lernt sie den Mann auf dem Thron kennen und kommt ihm letztendlich immer näher. Nur wie kann man sich in einen herzlosen Mörder verlieben?

BUCHGEDANKEN

Diese Frage ist omnipräsent, während man Stück für Stück in die wundervolle arabische Welt gezogen wird. Man verliert sich in detailreichen Beschreibungen, in Farben und Gerüchen, in Mustern und Mosaiken. Renée Ahdies Schreibstil ist märchenhaft, bildgewaltig, leicht ohne anspruchslos zu sein und gleichzeitig fesselnd. Es fiel mir schwer mit dem Lesen aufzuhören, um beispielsweise solch simplen Dinge zu tun, wie an der richtigen Haltestelle aus der Straßenbahn zu steigen. Ich hatte beim Lesen meine Freude an den schlagfertigen, teils humorvollen Dialogen, romantischen Szenen, an höfischen Intrigen und aufregenden Kampfszenen.

Shahrzad hinterlässt gleich zu Beginn einen bleibenden Eindruck. Sie ist taff, nicht auf den Mund gefallen, erfrischend und markant. Sie ist eine Protagonistin, die man sehr schnell ins Herz schließt, jedoch handelt sie manchmal auch sehr impulsiv, beinahe unberechenbar, sodass man fast glaubt, sie ist sich der Tatsache nicht (mehr) bewusst, dass ihr Schicksal in der Hand eines Mörders liegt. Vereinzelt wirkt sie auch wie ein überhebliches und trotziges Kind, das gerade seinen Willen nicht bekommt. Es macht ihren Wesenszug aus, dass sie sich nichts gefallen lässt, jedoch hätte ich von einer klugen, jungen Frau – die sie ja auch ist – erwartet, dass sie sich in manchen Situationen zusammenreißt, überlegt, die Konsequenzen abwägt und nicht einfach handelt und das zum Teil sehr unangebracht. Schnell wird einem klar, dass Shahrzads ursprünglicher Plan nicht so schnell und einfach umgesetzt werden kann. Ihr innerer Konflikt tritt immer stärker zu Tage und langsam wird auch Shahrzad bewusst, dass sie sich mit ihren Entscheidungen gegen ihre Überzeugung richtet. Ihre Zerrissenheit ist - zumindest zu Beginn - sehr gut beschrieben und in die Geschichte eingeflochten. 

Obwohl die Charaktere eine Stärke des Romans sind, sind sie gleichzeitig auch seine größte Schwäche. Wie kann man sich also in einen Mörder verlieben? Das lässt mit der Tatsache erklären, dass Chalid von seinem grundlegenden Charakter her eigentlich nicht darauf ausgelegt ist, keine Sympathie zu erzeugen. Er ist die perfekte Zeichnung eines pflichtbewussten Herrschers, dazu gemacht, sich in ihn zu verlieben. Es gibt eigentliche keine Situationen, in denen er als das Monster erscheint, das die Bevölkerung seines Reiches in ihm sieht. Shahrzad und mit ihr die Leser*innen erleben Chalid als einen gebrochenen, von Schmerz erfüllten jungen Mann, der freiwillig niemanden Leid zufügen würde. Das schafft natürlich ein Paradoxon und einen Widerspruch zur eigentlichen Prämisse des Buches. Daher sorgte vor allem der Beginn der Beziehung zwischen dem Kalifen und seiner jüngsten Braut bei mir für Unmut: Relativ zu Anfang des Romans kommt es zweimal zu sexuellen Handlungen der Protagonistin mit Chalid, zu denen Shahrzad sich eher überwinden muss und die im Nachhinein von ihr als nicht weiter bedeutet relativiert, geradezu romantisiert und vergessen weden. Solch eine Darstellung in einem Roman, der sich hauptsächlich an Jugendliche richtet, die ihre ersten Beziehungen gerade durchlaufen oder noch vor sich haben, ist mir absolut unverständlich und wäre für die Handlung und die Beziehung der beiden absolut nicht notwendig gewesen. 

Die Beziehung zwischen Shahrzad und Chalid, die Sympathie zwischen den beiden – so romantisch sie auch inszeniert sein mag – und Shahrzads daraus resultierendes Handeln kommt sehr plötzlich, nahezu aus dem Nichts. Ich kann die Kritik anderer Leser sehr gut verstehen, die hier an der Authentizität der Liebesgeschichte zweifeln. Die Geschwindigkeit, in der sich Shahrzad in Chalid verliebt, ist sehr ungewöhnlich. Sie, die einfache Tochter, die sich aus dem Wunsch nach Rache freiwillig als Braut für den Kalifen stellt, sich aber nicht dazu durchringt, ihren Plan in die Tat umzusetzen, obwohl sie von Hass erfüllt ist? Und der „wahnsinnige“ junge Kalif, der so nachsichtig mit der aufsässigen Shahrzad ist und davor jeden Morgen ein Mädchen töten ließ? Ja, die Liebe wirkt konstruiert. Aber eine Hals-über-Kopf-Liebesgeschichte ist für Jugendbücher leider nichts Ungewöhnliches. Gerade deshalb und angesichts der Ausgangssituation des Romans hätte ich mir eine zurückhaltende Entwicklung gewünscht. Für den Auftakt der Reihe hätte eine zarte, aufkeimende Freundschaft vollkommen genügt - und einige ernst gemeinte Attentate auf den Kalifen. 

FAZIT: WOHLFÜHLSCHMÖKER


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Literaturverweis:
Renée Ahdieh (2016): Zorn und Morgenröte. Köln: One / Bastei Lübbe. 

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