Buchgedanken | YOU: Du wirst mich lieben - Caroline Kebnes

April 11, 2020

! Diese Rezension könnte eventuell Spoiler enthalten !
Meine innere Psychologin war in ihrem Element ... 😅

CN: Stalking, Mord, Gewalt

Als die Studentin Guinevere Beck die Buchhandlung betritt, in der Joe Goldberg arbeitet, hat sie ihm bereits den Kopf verdreht. Sie ist schön, clever, sexy. Für Joe besteht kein Zweifel: Beck ist genau die, von der er schon immer geträumt hat und er muss sie wiedersehen. Zum Glück zahlt sie mit Kreditkarte und ihr Name öffnet Joe das Tor zu ihrer Welt. Immer mehr findet er über Beck heraus, denn er will perfekt für sie sein - und so hackt er sich in ihren Facebook- und Twitter-Account, liest ihre E-Mails, beobachtet ihre Wohnung. Beck ahnt von alldem nichts, und kann schließlich nicht anders, als sich in den etwas seltsamen, aber doch irgendwie süßen Typen zu verlieben, der so gut zu ihr zu passen scheint. Eine perfekte Liebesgeschichte, oder?

BUCHGEDANKEN

YOU ist ein besonderer Roman, nicht nur weil er aus der Sicht eines Stalkers geschrieben ist, sondern auch weil die Leser*innen direkt angesprochen werden - und das schon bevor ich das Buch überhaupt aufgeschlagen habe. "Du wirst mich lieben", sagt der Untertitel ganz selbstbewusst und ich fühle mich bereits herausgefordert. "Ach ja? Das wollen wir doch mal sehen!" 

Schon die ersten Sätze erzeugen eine ganz spezielle Atmosphäre: Einerseits stecke ich in Joes Kopf - sehe, was er sieht - denke, was er denkt - fühle, was er fühlt. Und gleichzeitig fühle ich mich beobachtet. Wie Beck bin ich seinem musternden Blick gnadenlos ausgeliefert, während er bis ins kleinste Detail beschreibt, was ich so den ganzen Tag treibe und wie er mich dabei beobachtet ... auch bei intimen Dingen. Auf eine bizarre Art und Weise ist es unheimlich und aufregend zugleich. 

Ich wusste während des Lesens lange nicht, ob ich Joe sympathisch oder abstoßend finde. Wären wir uns tatsächlich in der Buchhandlung begegnet und hätten uns unterhalten, würde ich hinterher wohl sagen: Mensch, der war ja intelligent, charmant und irgendwie witzig. Vielleicht fände ich ihn sogar attraktiv. Ich mochte seinen Sarkasmus und seine Liebe zur Literatur. Und dann zeigte er wieder seine hässlichen Seiten: Seine Arroganz und Abscheu gegenüber den Leuten, wenn er ihr Konsumverhalten oder Auftreten in Social Media kommentiert - kurz: immer, wenn etwas nicht seiner Sicht auf die Welt entspricht. Wie er die Dinge verdreht und Verliebtheit in jeden von Becks Schritten hineininterpretiert, sein Kontrollzwang. Das ekzessive Beobachten und Ausspionieren überschreitet dabei jede Grenze zwischen zwei Menschen. Und dennoch mochte ich Joe Goldberg in gewisser Weise bis zum Ende. Zumendest habe ich es geliebt, mich mit jeder Seite tiefer in sein Wesen zu wühlen. Wann steckt man schon mal so hautnah im Kopf eines (fiktiven) Stalkers?

Mit Beck verlief die Entwicklung zunächst eher in die andere Richtung: Je mehr ich Joe "lieb" gewann, desto unsympathischer wurde mir Beck. Obwohl Joe sie ständig beobachtet und ihre E-Mails liest, blieb Beck mir lange verschlossen. Was Joe - was ich - von ihr sah und las, schien lediglich die glänzende Oberfläche zu sein, die Beck der Welt verkaufen wollte. Beck wirkt zurückgezogen, misstrauisch, hangelt sich von einer Affäre zur nächsten. Ich hatte das Gefühl, es fällt ihr schwer ernsthafte Beziehungen mit Anderen einzugehen und daher zelebriert sie diese Oberflächlichkeit in gewisser Weise, um keine tiefe Beziehung eingehen zu müssen. Wie Joe hat auch Beck ihre selbstverliebten und arroganten Momente, und während ich sie hier beschreibe, frage ich mich, warum ich Beck je unsympathischer fand als Joe. Ich habe mich während des Lesens tatsächlich bei dem Gedanken erwischt: Joe, was willst du denn von dieser Beck? Es hat mich richtig irritiert, dem Täter in dieser Geschichte emotional anscheinend mehr zugetan zu sein als der Frau, die er als sein Opfer ausgewählt hat.

Das führt mich direkt zu einem der zentralen Themen: unsere digitalisierte Welt, die neben den persönlichen und zwischenmenschlichen Hürden wie Konflikten eine prominente Hauptrolle spielt. Joe ist eigentlich jemand, der mit den ganzen Social Media nichts anfangen kann. Für die Leute, die sich auf diesen Plattformen präsentieren hat er nur Hohn und Spott übrig. Aber um das Objekt seiner Begierde - Beck - zu beobachten, kommt ihm die Öffentlichkeit ihrer Profile gerade recht. Beck geht in dieser Hinsicht sehr unbedarft, fast schon naiv, mit dem Zugang zu ihren persönlichen Daten um. Und hier legt die Autorin den Finger genau in die Wunde, weil es so nahe liegt, folgendes zu denken:  Beck öffnet Joe damit Tür und Tor zu ihrem Leben. 

Täter-Opfer-Umkehr ist in unserer westlichen Gesellschaft allseits präsent, insbesondere wenn es Gewalt gegen Frauen betrifft. Es liegt in Becks Verantwortung, sich gegen Übergriffe zu schützen, wie sie in YOU thematisiert werden. Dabei liegt es in der Verantwortung der Täter*in, die Grenzen und Privatsphäre ihres Gegenübers zu respektieren und ihr Verhalten dementsprechend zu reflektieren. Stalking ist eine Straftat und das Bedürfnis seine Partner*in innerhalb wie außerhalb der Beziehung zu kontrollieren ist zutiefst toxisches Verhalten, für das auschließlich die Täter*innen die Verantwortung tragen. Da ich nicht zu viele Ereignisse und Dialoge für diejenigen vorweg nehmen möchte, die das Buch noch lesen möchten, werde ich das Thema nicht weiter vertiefen. Es sei nur noch gesagt, dass Joe mit Kritik an seinem Verhalten konfrontiert wird.

YOU ist Roman und Thriller zugleich. Der Mix machte das Buch von der ersten Seite an für mich spannend und interessant. Vielleicht ist auf der Ebene der Handlung nicht alles zu 100% durchdacht, dafür bestach der Roman mit psychologischer Tiefe. Kein anderer Thriller hat mich bisher so hautnah mit dem Blickwinkel des Täters konfrontiert und mich in eine unagnehme wie faszinierende Position dazu gesetzt. 


FAZIT: HERZENSBUCH ♥


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Literaturverweis:
Caroline Kepnes (2015): YOU. Du wirst mich lieben. Köln: Bastei Lübbe.

Bildrechte: Inken Pacholke (Wörterwelten)
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