Buchgedanken | Girl on the Train - Paula Hawkins

November 09, 2019


Rachel ist eine Träumerin und sie liebt das Zugfahren. Jeden Morgen pendelt sie mit dem Zug nach London. Jeden Morgen bleibt der Zug am immer gleichen Signal auf der alten Strecke stehen und Rachel blickt in die Gärten der umliegenden Vorstadthäuser. Sie beobachtet ihre Bewohner und malt sich deren Leben in den schönsten Farben aus. Immer wieder fällt Rachels Blick auf ein junges Paar, das dort vor einem Jahr eingezogen ist - Jess und Jason, wie Rachel sie in Gedanken nennt. So sehr sie in ihrer Fantasie des Lebens dieses Paares vernarrt ist, so sehr beneidet sie die beiden um ihr (scheinbares) Glück, das Rachel selbst vor vielen Jahren verloren hat. Als Jess eines Tages verschwindet, macht sich Rachel auf die Suche nach der jungen Frau. 

BUCHGEDANKEN 

Paula Hawkins arbeitet in ihrem Roman gekonnt mit Schein und Trug. Jess ist nicht der Engel, zu dem Rachel sie stilisiert, Jason ist auch nicht der perfekte Ehemann. Und auch manch andere Charaktere verbergen ihre dunklen Seiten. Wir begleiten nicht nur Rachel, sondern auch Megan alias Jess, die uns an ihrer Geschichte teilhaben lässt bis zu dem Tag, an dem sie plötzlich spurlos verschwindet; und Anna, die neue Frau an der Seite von Rachels Exmann Tom. Leider war mir keine der Frauen sonderlich sympathisch – bis auf Rachels Mitbewohnerin und Vermieterin Cathy, die als geduldige und verständnisvolle Freundin auftritt. Aber dennoch war es auf eine voyeuristische Art und Weise spannend, einen Blick in das Leben dieser unterschiedlichen Frauen zu werfen, die doch miteinander verbunden sind. 

Die beiden sind wirklich füreinander geschaffen, sie sind ein gutes Gespann. Sie sind glücklich, das sehe ich ihnen an. Sie sind das, was ich früher war. Sie sind Tom und ich vor fünf Jahren. Sie sind, was ich verloren habe; alles, was ich gern wäre. S. 23

Rachel versinkt in Selbstmitleid, Trauer und Alkohol um das Leben, das sie nicht mehr haben kann. Ich konnte sehr gut nachvollziehen, wie sehr ihre Vergangenheit sie verfolgt und belastet. Ich kann mir gar nicht ausmalen, wie schrecklich das Gefühl sein muss, wenn der Mann, den man liebt und den man geheiratet hat, einen betrügt, diese Frau dann auch noch den Platz im eigenen Haus einnimmt und ein Kind bekommt, das man selber nicht bekommen konnte. Rachel ist am Boden zerstört, sieht kaum mehr einen Sinn im Leben und möchte sich einfach nur noch verkriechen. Und das tut sie mehr oder weniger schon seit zwei Jahren, während ihr übriges Leben langsam um sie herum zerbricht.

Megan ist Rachel in manchen Dingen ähnlich. Sie kann sich ebenfalls nicht mehr aufraffen, nachdem ihre Kunstgalerie bankrott gegangen ist. Sie lässt sich gehen, sucht weder nach einem neuen Job noch nach einem Hobby und betrügt ihren Mann, der ihr hinterher spioniert, ihre E-Mails liest und den Browserverlauf durchstöbert. Und Anna ist der Albtraum jeder verheirateten Frau. Eine, die es genießt die Geliebte zu sein, das Heimliche und Verbotene zu erleben und dabei auch kein schlechtes Gewissen hat, das Leben einer Anderen zu zerstören. 

Mit Spannung habe ich verfolgt, wie sich die Charaktere im Laufe der Handlung verändert haben – manche zum Positiven andere zum Negativen. Genauso spannend wie die Entwicklung der Charaktere war das Mysterium um Megans (Jess') Verschwinden. Ich habe im Laufe der Handlung wirklich fast jeden verdächtigt, sie umgebracht zu haben - dazu muss ich sagen, dass ich bei Krimis und Thriller immer ratlos bin. Die Auflösung des Täters hat mich also vollkommen überrascht. Das Ende war mit das Beste am Buch - neben dem flüssigen, angenehmen Schreibstil und der ungewöhnlichen Erzählperspektive ("Morgens" und "Abends"), bei der man viel Raum zum eigenen Spekulieren hatte durch die Momentaufnahme von Handlungen, Gedanken und Rückblenden der Charaktere. Paula Hawkins ist hier ein grandioser Mix aus Roman und Thriller gelungen, ein spannendes und fesselnden sogleich psychologisches Verwirrspiel. Ein Blick hinter die Fassade der gepflegten Londoner Vorortgärten und die vermeintlich perfekten, bürgerlichen Ehen. 


FAZIT: WOHLFÜHLSCHMÖKER
(mit Nervenkitzel)

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